Ein Interview mit Psychologe Fabian Grolimund über verträumte Kinder
Wann bezeichnet man ein Kind als verträumt?
Es geht dabei nicht um eine feste Definition. Die Frage wäre eher, ab wann vergibt man bei einem verträumten Kind eine ADS-Diagnose? Also ab wann geht es irgendwo in einen Bereich hinein, wo man das Gefühl hat, es wäre wichtig, eine Diagnose zu haben, damit man auch eventuell eine Therapie anbieten kann. Kinder, die verträumt sind, befinden sich einfach häufig in ihrer Innenwelt und sind mit ihren Phantasien und Gedanken beschäftigt. Sie haben in vielen Bereichen Mühe zuzuhören und sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Bei Routinen zum Beispiel, wie sich morgens anziehen, kommen sie nur schwer in die Gänge. Dann sagen Eltern häufig Sätze wie “Mach ein bisschen schneller”, “Wir müssen jetzt los. Warum bist du noch nicht fertig?” oder “Hörst du bitte zu?”. Das kommt bei dem Kind aber nicht wirksam an, da es wieder in seiner Innenwelt ist.
Warum haben verträumte Kinder es oft schwer/schwerer?
Um es nochmal zusammenzufassen: Diese Kinder leben in ihrer Innenwelt und müssen sich aber in ihrem Leben auf die Außenwelt und auf bestimmte Aufgaben fokussieren.
Wir können uns das so vorstellen: Morgens ist das Kind ist vielleicht in Gedanken, aber es sollte sich jetzt anziehen und zum Frühstückstisch runterkommen. Da fängt es schon an, dass das verträumte Kind dann vielleicht auf dem Bett sitzt und beim Anziehen anfängt über irgendetwas nachzudenken. Dann hat das Kind gefrühstückt und es sollte wieder seinen Fokus auf der Aufgabe haben. Zum Beispiel schauen “Was habe ich heute für Stunden?” oder “Was muss ich einpacken, damit ich nichts vergesse?”
Manchmal denkt es vielleicht noch über etwas anderes nach, obwohl es schon in der Schule sitzt und zuhören sollte. Es sollte Arbeitsblätter lesen, aber der Fokus geht wieder nach innen, geht in die Innenwelt und jetzt wird es wirklich schwierig, denn es verpasst Inhalte. Es kommt bei der Arbeit nicht schnell genug voran. Es gibt Rückmeldungen von der Schule: “Ihr Kind kann sich nicht konzentrieren. Beim selbstorganisierten Arbeiten kommt es überhaupt nicht voran. Es hat Mühe, an die Sachen zu denken. Es vergisst immer wieder etwas.” Da kommen dann ganz viele negative Rückmeldungen bei den Eltern an, dass das Kind quasi “zu wenig funktioniert.” Häufig finden die Eltern, dass eigentlich diese verträumte Art herzig an ihrem Kind ist. Aber wenn das Kind mehr und mehr mit den Anforderungen der Außenwelt konfrontiert wird und diese Art dann einfach auch in den Weg kommt, kann das für das Kind und die Familie problematisch werden.
Hat das verträumt Sein auch positive Aspekte?
Ich finde ja! Dieses Verträumte verbindet uns ein Stück weit mit uns selbst. Wenn man eine kreative Aufgabe erledigen will, z.B. etwas zu malen, dann ist es wichtig, dass man diesen Zugang zu seiner Innenwelt nicht verliert. Bei jedem Projekt an dem man arbeitet, das in gewissem Ausmaße Kreativität erfordert, kommen einem die guten Ideen nicht, wenn man vor einem Blatt sitzt oder vor dem PC, sondern wenn man spazieren geht, unter der Dusche steht und man die Gedanken schweifen lassen kann. Diese Fähigkeit macht uns ein Stück weit kreativ. Sie verbindet uns mit unseren Bedürfnissen und unseren Wünschen. Ich finde es ganz wichtig, dass man sich diesen Anteil bewahren kann. Es ist durchaus auch problematisch, wenn Erwachsene das im Laufe ihrer Sozialisierung so eingebüßt haben und sie diesen Zugang zu ihrer Innenwelt nicht mehr genügend besitzen.
Welche besonderen Bedürfnisse haben diese Kinder?
Bei vielen verträumten Kindern merke ich sehr stark das Bedürfnis, dass sie Zeit brauchen für diese Innenwelt. Dem entgegen steht, dass die Aufgaben, die sie bewältigen müssen, zunehmen. Zum Beispiel haben sie nach der Schule noch viele Hausaufgaben und brauchen sehr viel Zeit dafür. Wenn dann noch viele strukturierte Hobbies dazukommen wie Sport oder Musikunterricht, dann können sie ihre Gedanken auch wieder nicht schweifen lassen. Besonders anstrengend für diese Kinder sind lange Betreuungszeiten, wie zum Beispiel im Hort. Sie brauchen oft Momente, wo sie sich zurückziehen können, wo sie im Zimmer ein Hörspiel hören können, wo sie für sich alleine oder vielleicht mit einer Freundin oder einem Freund spielen können. Daher ist Zeit in größeren Gruppen unterbewusst etwas, was diese Kinder oft sehr ausgelaugt und müde macht.
Wie können pädagogische Fachkräfte verträumte Kinder unterstützen?
In der Kita finde ich es sehr wichtig, dass die Kinder entsprechende Ruhe-Momente haben und sie die Möglichkeit bekommen, sich auch mal zurückziehen. Zum Teil finde ich die Sicht auf die Kinder hier problematisch. Mein Sohn zum Beispiel ist auch eher introvertiert und war über Mittag einen Tag in der Mittagsbetreuung. Die Betreuer:innen bemerkten, dass er sich zurückzog und nahmen das sofort als Problem war. So als müsste jedes Kind ständig unterwegs sein und bei allen Gruppenaktivitäten mitmachen wollen. Die Frage wäre: Wie kann man die Kinder unterstützen, die ein bisschen mehr Ruhe und einen Rückzugsort brauchen? Was können wir den Familien anbieten? Darüber nachzudenken fände ich wertvoll. Ganz wichtig ist auch für die verträumten Kinder, dass es eine unstrukturiert Zeit gibt. Ich fand es zum Beispiel ganz wunderbar, dass unsere Kita einen riesigen Garten hatte und dass dann die Erzieher:innen oft in Grüppchen zusammen standen, ein bisschen geplaudert haben, während die Kinder alles mögliche in diesem Garten veranstaltet haben und einfach eingegriffen haben, wenn es irgendwo zu Streit kam. Ein ganz anderes Erlebnis war zum Beispiel folgende Situation: Ich hatte mal ein Filmprojekt und war dafür in einer Kita in Zürich. Die Fachkräfte dort haben die Ernährungspyramide mit den Kindern durchgenommen. Die Leiterin sagte, die Eltern würden immer fragen, was die Kinder denn gelernt haben.
Ich halte es für gefährlich, dass man diesem Druck so nachgibt und das Gefühl hat, man muss die Kindern immer in irgendetwas unterrichten. “Sie müssen irgendetwas lernen, sie müssen irgendeinem Programm folgen, es muss alles durchstrukturiert sein, man muss die Kontrolle haben und wir als Erwachsene definieren, was die Kinder den ganzen Tag lang machen.” Wenn diese Gegenwelt fehlt in Form einer Zeit in der sie sich ausklinken können, wo sie eigenen Interessen nachgehen können, wo sie sich ganz ins Spiel vertiefen können, ohne dass da irgendwie immer der Blick auf die Uhr da ist und schon der nächste Punkt auf dem Programm steht, dann halte ich dies für kein Kind sinnvoll, und noch schwieriger für verträumte Kinder. Wir haben unheimlich Mühe, die Kinder einfach mal machen zu lassen und regen uns dann auf, dass sie zu wenig selbstständig sind. Das finde ich ist so eine Gefahr im pädagogischen Kontext und darüber hinaus allgemein heutzutage.
Die Frage wäre also eher “Wo kann ich mich zurücknehmen?”, statt “Wo kann ich unterstützen?” Also wo können wir den Kindern eine Pause von uns Erwachsenen gönnen?
Du hast mit einer Kollegin zusammen ein Buch geschrieben. Kannst du kurz erzählen worum es geht?
Ja gerne. Das Buch ist aber eher für Kinder, die schon in der Schule sind. Es heißt “Lotte, träumst, du schon wieder?” und es geht um ein verträumtes Hasen-Mädchen, das mit dieser verträumten Art in der dritten Klasse ist und wirklich große Schwierigkeiten bekommt. Sie sitzt stundenlang mit ihrer Mama über den Hausaufgaben, es gibt Streit deswegen, sie vergisst sich auf Prüfungen vorzubereiten, weil sie sich das Datum nicht richtig eingetragen hat etc.. Die Lehrerin schimpft mit ihr, sie solle sich besser konzentrieren. Daneben hat sie aber ganz viele Fähigkeiten und Talente. Sie zeichnet gern zum Beispiel und kann das sehr gut. Sie ist eine gute Freundin und hat zwei Freundinnen, mit denen sie eine sehr schöne Freundschaft hat, die auch eine wichtige Stütze sind. Die Situation wird immer schwieriger. Gerade als sie es nicht mehr aushält, begegnet sie im verlassenen Wald einer weißen Wölfin. Die Wölfin bringt ihr bei, wie sie beides miteinander vereinbaren kann – sich zur richtigen Zeit zu fokussieren und das Träumen zuzulassen. Ein Kernsatz im Buch ist auch “Alle wollen, dass ich mich besser konzentriere, aber niemand sagt mir, wie es geht.” Und genau das zeigt ihr die Wölfin.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir merken, dass es gerade im Bildungsbereich nicht immer um mehr und früher und schneller gehen sollte und dass man Kindern wieder mehr Zeit lässt. Dass man merkt, dass es mehr darum geht, dass man wichtige Inhalte vertieft und diese auch emotional erfasst, als dass man möglichst viel auf einmal durchgenommen hat, um es abzuhaken.
Und dann, würde ich mir sehr wünschen, dass mehr Rücksicht genommen werden kann auf das individuelle Tempo der Kinder. Es gibt ja diese Strömungen von Inklusion und Individualisierung. Dem stehen aber Noten und Selektion diametral gegenüber. Man kann nicht zu den Lehrer:innen sagen, sie sollen Kinder individuell fördern und sie dann zwingen Prüfungen zu machen, an denen die Kinder alle zur selben Zeit das Gleiche können sollen. Diese neuen Strömungen wurden einfach auf die alten aufgepflanzt und das knirscht an allen Ecken und Enden. Sie können nicht Inklusion und Individualisierung vorantreiben, wenn sie gleichzeitig Noten und Selektion im Hinterkopf haben, oder?
Ich wäre froh, wenn sich das durchsetzen würde und man erkennt: Wir erreichen für alle Kinder mehr, wenn wir einen Teil des Drucks rausnehmen.
Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor (z.B. "Jaron auf den Spuren des Glücks", "Geborgen mutig frei - wie Kinder zu innerer Stärke finden", "Huch, die Angst ist da!"). Gemeinsam mit Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Mehr darüber auf der Webseite: www.mit-kindern-lernen.ch
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