10 Praxistipps, die das Miteinander deutlich verbessern können
Ein Artikel von Timo Warnholz
Wenn ich das Zusammenspiel aus Pädagog:innen und betroffenen Kindern beobachte, fällt mir immer wieder auf, dass hierbei Welten aufeinanderprallen können. Das Verständnis für die Verhaltensweisen Betroffener wirkt auf mich hierbei oft noch nicht ausgereift. Betroffenen Kindern wird regelmäßig absichtliches Fehlverhalten unterstellt, wo sie aufgrund ihrer neurologischen Besonderheiten keine Schuld trifft. Der Hauptgrund hierfür kann ein fachliches Defizit in Bezug auf das störungsspezifische Wissen sein. Doch oft reichen nur ein paar griffige Informationen, um das Miteinander auf eine verständnisvolle und wertschätzende Ebene zu heben.
Das Hauptproblem bei mangelndem Hintergrundwissen ist, dass wir den Mangel in diesen Fällen nicht durch unser Bauchgefühl kompensieren können, wie es bei der Arbeit mit vielen anderen Kindern der Fall ist. Und das hat einen ganz einfachen Grund. Unser Bauchgefühl ist in der Regel „neurotypisch“. Gehirne autistischer Kinder sind dies allerdings nicht. Deswegen ist das, was uns unser Bauch in Bezug auf das betroffene Kind sagt, oft nicht das was das Kind tatsächlich benötigt. Im schlimmsten Fall sogar das Gegenteil davon. Wir scheinen also in der Interaktion mit autistischen Menschen nicht besonders kompetent im Bereich der Empathie unterwegs zu sein.
Was durchaus interessant ist, da es ja genau diese eingeschränkte Empathieleistung ist, die wir Mitmenschen aus dem Autismus-Spektrum so gerne als Defizit auslegen.
Es gibt Bereiche, die im Umgang mit autistischen Kindern einen besonderen Stellenwert haben. Diese sind die soziale Interaktion und Kommunikation, die stereotypen oder sich wiederholenden Verhaltensweisen und die Wahrnehmungsverarbeitung. Die folgenden Praxistipps beziehen sich auf diese genannten Bereiche:
Nr. 1 Klartext reden
Kinder im Autismus Spektrum haben Schwierigkeiten damit, verbale Informationen zu verarbeiten und zu verstehen, dadurch entstehen regelmäßig Verzögerungen in der Informationsverarbeitung. Die entstehenden Missverständnisse können wir durch die Anpassung unserer eigenen Sprache deutlich verringern. Das bedeutet im Detail, dass auf so viele Füllwörter und Höflichkeitsfloskeln wie möglich verzichtet werden sollte. Kinder müssen dann aus deutlich weniger Wörtern einen Kontext bilden. Mein Grundsatz hierzu lautet „Klarheit vor Höflichkeit”.
Nr. 2 Keine Ironie nutzen
Diese sollte im Kita-Kontext grundsätzlich nicht genutzt werden, da auch neurotypische Kinder in der Regel noch nicht dazu in der Lage sind diese richtig zu verstehen. Für autistische Kinder ist dies fast unmöglich. Verbale Kommunikation sollte sachlich und direkt sein. Hierbei ist wichtig, dass es keinen Interpretationsspielraum geben darf, der es notwendig macht, sich die Bedeutung des Gesprochen über das Bauchgefühl oder die Empathie zu erschließen.
Nr. 3 Nachsicht bei missglückter Gesprächseröffnung zeigen
Kinder aus dem Autismus-Spektrum sind noch mehr als nichtautistische Kinder auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse fixiert. Aus diesem Grund beginnen sie Gespräche nur selten mit Höflichkeitsfloskeln oder Smalltalk über das Wetter, sondern teilen ihr Anliegen in der Regel impulsiv und ohne Einleitung mit. Dies liegt vor allem daran, dass die Kinder nur schwer dazu in der Lage sind, die Komplexität bestehender sozialer Situationen richtig zu analysieren oder Strategien für eine „angemessene“ Gesprächseröffnung zu entwickeln. Sollte also wieder einmal ein betroffenes Kind in ein Gespräch unter Kolleg:innen platzen um laut „Ich habe Hunger“ durch den Raum rufen, empfehle ich, das Kind nicht direkt zurechtzuweisen, sondern ein Erfolgserlebnis zuzulassen, in dem man wohlwollend auf die Anfrage reagiert. Infolgedessen kann man mit dem Kind in Ruhe und über einen längeren Zeitraum gesellschaftskompatibleres Kommunikationsverhalten erarbeiten.
Nr. 4 Blickkontakt nicht überbewerten
Für Menschen aus dem Autismus-Spektrum hat Blickkontakt eine untergeordnete Rolle. Aufgrund unserer gesellschaftlichen und kulturellen Regeln und Normen können wir uns damit oft nur schwer anfreunden. Unsere Eltern und Großeltern wären entsetzt bei dem Gedanken, dass wir in Zukunft auf den Blickkontakt bei Begrüßungen verzichten würden. Und tatsächlich hat er eine wichtige Funktion. Neurotypische Menschen können damit den mentalen Zustand ihres Gegenübers manchmal schon im Bruchteil einer Sekunde erfassen. Dies dient dazu möglichen Gefahren, die uns z.B. durch aggressive Mitmenschen drohen, schnell aus dem Weg zu gehen. Autistische Menschen schaffen es nur schwer Informationen dieser Art zu erlangen. Viele Betroffene berichten mir, dass sie kaum dazu in der Lage sind Gesichter zu erkennen, an welcher Stelle sich die Nase im Gesicht befindet kann hier schon eine große Herausforderung darstellen. Informationen durch Blickkontakt abzugreifen, scheint hierbei fast utopisch. Die neurologischen Gründe anderen Menschen in die Augen zu sehen, fallen also weg. Was bleibt sind die gesellschaftlichen Konventionen. Auch für diese fehlt autistischen Menschen oft das Verständnis. Nun also meine Frage an all die pädagogischen Fachkräfte da draußen, die Betroffene ständig nötigen, ihnen in die Augen zu sehen: „Wenn ich euch bitten würde, mir auf die Füße zu sehen, während ihr mich begrüßt, würdet ihr es tun oder mich für verrückt halten?“
Nr. 5 Wichtige Informationen immer unter vier Augen besprechen
Sollte man Kindern aus dem Autismus-Spektrum eine wichtige Information übermitteln wollen, dann sollte man die Störfaktoren so weit wie möglich ausschließen. Betroffene Kinder haben eine offene Wahrnehmung und sind kaum dazu in der Lage einen Fokus zu setzen. Das bedeutet, dass das gesprochene Wort der Gruppenleitung immer mit den gleich laut wahrgenommenen auditiven Einflüssen aus der Gruppe konkurrieren muss. Bei einem Gespräch zu dritt ist das Kind eher damit beschäftigt herauszufinden, wer gerade mit sprechen dran ist, für wen die Informationen überhaupt sind und ob das Kind zuhören oder selbst sprechen soll.
Ich rate dazu, mit dem Kind immer unter vier Augen in einem separaten Raum zu sprechen, wenn es Chance haben soll, die Information an der richtigen Stelle oder überhaupt abzuspeichern.
Nr. 6 Keine empathische Reaktion auf den eigenen Gemütszustand erwarten
Was sind wir Profis doch bemüht uns auch wie solche zu verhalten. Doch dann eines Tages passiert es doch. Wir haben einen schlechten Tag, sind durch Ereignisse im Privatleben wütend, genervt oder traurig und gehen trotzdem davon aus, dass wir diese Gemütszustände im Griff haben. Und dann treffen wir auf dieses eine autistische Kind in unserem Gruppenraum und dieses merkt einfach nicht wie sehr wir doch genervt sind und geht einfach nicht auf unsere Bedürfnisse ein. Dabei sehen wir doch eindeutig wütend aus, was man problemlos an der leichten Stellungveränderung unseres rechten Mundwinkels erkennen sollte. Und trotz dieses subtilen Hinweises fragt uns das Kind nicht wie es uns wohl gehen mag oder nimmt uns unaufgefordert in den Arm. Mein Tipp dazu lautet, dass man den entsprechenden Kindern deutlich und vor allem verbal mitteilen muss, dass man sich nicht gut fühlt. Am Gesicht wird es das Kind aus den bereits genannten Gründen nicht ablesen können.
Nr. 7 Unpassendes Nähe- und Distanzverhalten durch Logik regulieren
„Halt mal ein bisschen Abstand!“ oder „Komm her, wenn du mich etwas fragen willst!“ sind Sätze, die im Umgang mit autistischen Kindern regelmäßig von pädagogischen Fachkräften zu hören sind. Denn die Fähigkeit „angemessenen“ Abstand zu halten, hängt von vielen Faktoren ab. Einer dieser ist auch hierbei die Empathie. Autistische Kinder haben Probleme damit zu fühlen, ab wann Menschen beginnen, sich durch zu starke Annäherung unwohl zu fühlen. Ein anderer wichtiger Grund sind Probleme in der Eigenwahrnehmung, der so genannten Propriozeption. Hierbei fällt es Betroffenen schwer, ihre Lage im Raum oder vielmehr die Entfernung zu Gegenständen oder anderen Menschen zu spüren. Manchmal gibt es auch sehr nachvollziehbare Gründe, wie z.B. die Annahme eines autistischen Kindes, dass andere Menschen es besser verstehen, je näher es an diese herantritt.
Mein Tipp hierzu lautet, die Abstände messbar zu definieren. In dem man z.B. die Länge von Körperteilen als Richtwert nimmt. Später im Jugendalter kann man auch von Zentimetern oder anderen Einheiten reden.
Nr. 8 Stereotypes, sich wiederholendes Verhalten unbedingt zulassen
Menschen im Autismus-Spektrum regulieren Erregungszustände oft durch stereotype Verhaltensweisen. Hierbei kann es sich um bestimmte Bewegungsabläufe handeln, die sich regelmäßig wiederholen oder das Bestehen auf Strukturen, Regeln und Abläufen. Stereotypien können auch auf sprachlicher Ebene auftreten. Hierbei wiederholt ein Kind, das sich in einer Stresssituation befindet, z.B. immer wieder die gleiche Frage. Wenn man dann die Frage beantwortet, hört das Kind nicht zu und wiederholt die Frage weiter vor sich hin.
Wichtig: Stereotypien werden durch Betroffene bewusst oder unbewusst eingesetzt. Die Verhaltensweisen wirken angenehm und beruhigend auf Betroffene und helfen ihnen, ihre Gemütszustände zu regulieren. Aus diesem Grund sollten stereotype Verhaltensweisen auf keinen Fall unterbrochen werden.
Stereotypien können auf das Umfeld allerdings sehr herausfordernd und störend wirken. Wenn Kinder z.B. dauerhaft den Lichtschalter in ihrer Kita-Gruppe betätigen. Hier kann ich empfehlen, das Verhalten des Kindes gut zu beobachten. Betroffene haben in der Regel mehrere Stereotypien im Repertoire und lassen sich manchmal leicht dazu animieren eine gesellschaftskompatiblere Verhaltensweise im Gruppenkontext einzusetzen. Ein kleiner Tipp: Das Betätigen des Lichtschalters im Nebenraum ist genauso angenehm wie das Betätigen des Lichtschalters im Gruppenraum. Die Funktion ist der ausschlaggebende Faktor. Also ruhig mal einen leeren Raum als Alternative anbieten.
Nr. 9 Sensibilitäten in der Wahrnehmung beachten
Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen lassen sich ungern berühren. So heißt es zumindest. Allerdings gibt es auch betroffene Kinder, die viel körperlichen Kontakt suchen, vielmehr nicht ansatzweise den Eindruck vermitteln, dass sie bei Berührung Unwohlsein oder sogar Schmerzen empfinden. Tatsächlich sind beide Ausprägungen üblich, denn Kinder aus dem Autismus-Spektrum sind in der Regel entweder hypo- oder hypersensibel. Also unter- oder überempfindlich. Und manchmal auch beides im Wechsel, je nach Tagesform. Diese Sensibilitäten können alle Bereiche der Wahrnehmung betreffen. Hierbei ist es wichtig, Kinder ernst zu nehmen, wenn sie äußern, dass sie nicht berührt werden wollen, ihnen etwas zu laut ist oder sie sich geblendet fühlen, auch wenn sie am Vortag einen ganz anderen Eindruck vermittelt haben.
Nr. 10 Den fehlenden Fokus in der Wahrnehmung beachten
Betroffenen Kinder sind nur schwer dazu in der Lage, in der Wahrnehmung einen Fokus zu setzen. Das bedeutet im Alltag z.B., dass die meisten Geräusche fast gleich laut oder Lichtimpulse als gleich stark wahrgenommen werden. Dadurch fällt es Betroffenen extrem schwer Prioritäten zu setzen. Kinder können dann schwer entscheiden, wo sie hingucken oder hinhören sollten. Um das nachempfinden zu können, sollte man sich einfach den Versuch vorstellen, ein bestimmtes Gesicht in einer Menschenmenge zu fotografieren, ohne dass der Autofokus der Kamera aktiviert ist. Auf dem verschwommenen Foto kann man dann versuchen, einzelne Gesichter zu identifizieren, was nicht einfach sein wird.
Fazit
Unterm Strich lässt sich sagen, dass Menschen im Autismus-Spektrum so besonders in ihrer Wahrnehmung, ihrer Kommunikation, ihrem Sozialverhalten und der Regulation ihrer Gemütszustände sind, dass neurotypische Menschen wohl nie dazu in der Lage sein werden, Betroffene in diesen Bereichen nachzuempfinden.
Es ist aber durchaus möglich ein fachliches Verständnis für viele Verhaltensweisen zu entwickeln. An dieser Stelle ist es einfach notwendig, dass wir uns mit den Besonderheiten der Autismus-Spektrum-Störung auseinandersetzen und uns im Umgang mit Betroffenen nicht nur auf unser Gefühl verlassen. Denn das trifft halt nicht immer ins Schwarze und nicht selten führt es dazu, dass wir betroffene Kinder ungerecht behandeln, da wir Verhaltensweisen falsch einordnen und nonkonformes Verhalten als Absicht bewerten, obwohl das Kind gar nicht dazu in der Lage ist, anders zu agieren.
Ich kann also jeder Fachkraft ans Herz legen, sich mit genügend Fachwissen zu beladen, um Irritationen dieser Art gar nicht mehr vorkommen zu lassen.
Timo Warnholz ist therapeutische Fachkraft für Autismus, Traumapädagoge und Sozialfachwirt. Seit fast 20 Jahren ist er in sozialen Einrichtungen tätig. Neben seiner Tätigkeit als Leiter einer Beratungsstelle für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen und als Teamleiter eines ambulanten pädagogischen Assistenzdienstes, arbeitet er seit vielen Jahren als freiberuflicher Fachberater und Referent. Hierbei ist es ihm besonders wichtig, durch die Vermittlung fachlichen Hintergrundwissens, Verständnis für komplexe Störungsbilder und die daraus resultierenden Verhaltensweisen und Symptome zu erzeugen.
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