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Die Autonomiephase

Ein Artikel von Kaia Olesen



Die Sicht auf Kinder

Die Art, wie wir Kinder betrachten, hat sich verändert. Zumindest verändert sich seit ein paar Jahren spürbar etwas. Das Fundament, auf der die herkömmliche Pädagogik aufgebaut war, bröckelt und ist durch Wissenschaft und Neurobiologie in vielen Teilen widerlegt. Nur ist der Weg von “wie es schon immer war” bis hin zu “wir möchten es anders machen” nicht einfach, sondern steinig und mit viel Gegenwind versehen. Die Gesellschaft verändert sich grundsätzlich sehr langsam und braucht so manchmal Generationen für echte Veränderung.


Es ist wichtig zu erkennen, dass die Erziehungsziele von damals ganz andere waren als die, die wir heute haben.

Die ganzen Systeme, unter anderem im Bildungsbereich, hinken deutlich hinter dem Wissen her, welches wir heute über die Entwicklung von Kindern haben. Die herkömmliche Pädagogik schaut nur auf das Symptom: Es wird ein bestimmtes Verhalten gesehen und darauf wird reagiert. Besonders wenn das Verhalten schwierig wird, wird der kürzeste Weg gegangen, um dieses Verhalten abzuschalten, zu stoppen oder zu unterdrücken.


Aber wenn wir genau hinschauen, uns eine große Lupe zur Hand nehmen und sie auf das Kind richten, dann können wir erkennen, dass dieses Verhalten nicht vom Himmel fällt, sondern einen Grund haben muss. Wenn wir uns jegliches Verhalten von Menschen, ob groß oder klein, anschauen, dann hat dies immer einen Sinn! Genau deshalb ist es so wichtig, dass Kinder von Bindungs- und Bezugspersonen umgeben sind, die wissen, dass es immer einen Grund gibt, nach dem sie suchen dürfen. Wir dürfen schauen, welches Gefühl hinter einem Verhalten liegt und dann können wir das emotionale Grundbedürfnis erkennen und beantworten.


Alle Menschen haben dieselben emotionalen Grundbedürfnisse: Sicherheit, Verbundenheit und Autonomie.

Sicherheit entsteht, wenn eine tiefe Verbundenheit mit gleichzeitigem Raum für Autonomie vorhanden ist. Der Unterschied von Kindern zu Erwachsenen ist allerdings, dass Kinder sich diese Bedürfnisse nicht selbst erfüllen können, sondern absolut abhängig davon sind, Bindungs- und Bezugspersonen zu haben, die diese Bedürfnisse erkennen und erfüllen können.


Menschen sind Beziehungswesen

Wir Menschen sind alle Beziehungswesen. Wir suchen nach enger Verbundenheit und streben gleichzeitig nach Selbstständigkeit – wir wollen die Welt erkunden!


Weil Kinder sich verbinden wollen, arbeiten sie grundsätzlich mit ihren Bezugspersonen zusammen, sie wollen also kooperieren. „Aber“ hören wir dann, „aber warum verweigern sie es dann? Es fühlt sich oft nicht so an, als würden sie zusammenarbeiten wollen!“ oder „Warum hört mein Kind dann nicht auf mich?“ Auch hier dürfen wir wieder die Lupe zur Hand nehmen, denn wenn Kinder aufhören zu kooperieren, hat es genau zwei Gründe: Es könnte sein, dass sie schon zu viel kooperiert haben und nicht mehr können. Sie haben schlicht ihr Kooperationskontingent verbraucht, sind erschöpft und nicht mehr in der Lage den Anforderungen von den Erwachsenen zu folgen. Der zweite Grund könnte sein, dass sie gekränkt oder verletzt wurden, dass sie in ihrer Persönlichkeit nicht geachtet oder ihre Bedürfnisse schlicht missachtet wurden.


Kinder wollen uns nicht ärgern, sie sind nie gegen uns. Sie wollen uns tatsächlich gefallen und versuchen mit ihren Möglichkeiten die Erwartungen ihrer Bezugspersonen zu erfüllen. Dabei übergehen sie sehr oft ihre eigenen Bedürfnisse.

Es ist sehr individuell und hängt von Faktoren, wie der Persönlichkeit, der Umgebung und den Bindungspersonen ab, wann und wie spürbar die Autonomiephase deutlich wird. Bei den meisten Kindern beginnt die Autonomiephase mit dem aufrechten Gang, etwa zwischen dem ersten und dem zweiten Geburtstag. Die Phase läutet die Ablösung vom Babyalter ein und geht oft mit sehr viel Wut einher.


Warum Kinder nicht trotzig sind

Da wir nun wissen, dass die Kinder nicht gegen uns sind, sondern dass jedes Verhalten das Einstehen für sich selbst ist, ergibt es auch keinen Sinn, dieses Verhalten als Trotz zu bezeichnen. Kinder verhalten sich grundsätzlich nicht trotzig oder aufständisch. Diese Haltung Kindern gegenüber zieht immer noch ihre Spuren aus der herkömmlichen Pädagogik, die Kinder grundsätzlich als Tyrannen sahen, die durch Schreien lassen oder Entzug von Nähe zurechtgebogen werden sollten. Dabei wurden die emotionalen Grundbedürfnisse und Gefühle schon bei Säuglingen und sehr kleinen Kindern unterdrückt und verdrängt.


In dieser sehr prägenden Phase entdecken die Kinder ihr Ich und werden sich ihrer Selbstwirksamkeit bewusst.

Ihr Autonomiebedürfnis wird sehr stark. Das Selbstständig werden und die Ablösung von den Eltern wird mit einem starken eigenen Willen und damit einhergehenden Wutanfällen eingeläutet. Dabei gehören Konflikte plötzlich zum Alltag und das gilt es sowohl liebevoll auszuhalten als auch zu verstehen, um damit konstruktiv umgehen zu können.

Das emotionale Gehirn der Kinder entwickelt sich stark weiter und hängt dabei die kognitive Entwicklung ab. Die emotionalen Hirnbereiche (das limbische System) sind für die einfachen, aber auch überlebenswichtigen Emotionen wie Wut, Trauer, Freude, Angst und Schmerz verantwortlich. Wenn das emotionale Gehirn aktiviert wird, ist die kognitive Ebene, also die Vernunft des Kindes nicht mehr erreichbar und damit der Versuch tatsächlich vergeblich. Die langsamere Entwicklung der kognitiven Hirnareale braucht viele Jahre, um die neuronalen Bahnen durch Erfahrungen und Üben zu verknüpfen und bedeutet, dass das Kleinkind im Wutanfall nicht darauf zugreifen kann und seine Emotionen so weder steuern, noch selbst regulieren kann.


Das Zauberwort Co-Regulation

Genau deshalb ist es so wichtig, Kinder auf der emotionalen Ebene, also im Gefühl aufzufangen und ihnen dabei zu helfen, sich zu regulieren. Co-Regulation ist das Zauberwort der Autonomiephase, denn durch Co-Regulation geben wir den Kindern Sicherheit. Wir lassen sie genauso sein wie sie sind, wir sprechen ihnen nicht ihre Gefühle ab, sondern erlauben ihnen all ihre Gefühle zu spüren. Wir geben ihren Gefühlen einen Namen und wir zeigen den Kindern, welche Möglichkeiten es gibt, mit ihren oft sehr heftigen Gefühlen wie Wut umzugehen.


Wenn wir also unsere Kinder besser verstehen und Wissen über ihre Entwicklung haben, dann können wir diese frühe Autonomiephase als Möglichkeit nutzen, unseren Kindern eine Grundlage für das Leben mitzugeben. Nämlich dass sie Zugang zu ihren Gefühlen behalten, dass sie Regulationsmöglichkeiten erlernen, dass sie, so wie sie sind, wertvoll sind, gesehen und gehört und auch verstanden werden. Sie bekommen mit, dass sie genauso wie sie sind, okay sind!

 

Kaia Olesen ist zertifizierte bindungs- und beziehungsorientierte Familienbegleiterin und spezialisiert auf Kinder zwischen 1 und 5 Jahren und die Autonomiephase. Zudem ist sie angehende Eltern- und Familienberaterin. Ihre Ausbildungen hat sie bei Katia Saalfrank gemacht. Sie ist selbst Mutter von zwei Kindern im Alter von 7 und 15 Jahren.



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