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Das Pferd als Pädagoge

Mit Pferden lernen oder wie man sich selbst besser erkennt – ein Artikel von Doreen Pose



In der Arbeit mit Pferden und Menschen erlebe ich immer wieder, wie gut Pferde darin sind, uns bisher unbekannte, bereits unbewußt vorhandene und förderliche Eigenschaften bewusst zu machen.


Das beginnt bereits, wenn die Kinder beim Reitunterricht ihr Pony selbst führen dürfen. Bevor es ans Reiten geht, laufen wir mit den Pferden zwei Runden links und zwei Runden rechts herum. In dieser einfachen Übung steckt bereits so viel Gewinn für die Persönlichkeit eines Menschen! Folgt mir das Pferd bereitwillig? Bleibt es stehen, um an den Grashalmen zu zupfen, die unter dem Zaun hervorwachsen? Rempelt es mich vielleicht sogar an? Überholt es mich, ohne mich zu beachten? Es gibt sehr viele verschiedene Arten, wie sich ein Pferd in unserer Gegenwart verhalten kann. Und so werden wir aufgefordert, in der einen oder anderen Weise zu reagieren.


Das Ziel ist immer, eine gelungene Kommunikation zu erreichen. Ein harmonisches Miteinander darf entstehen. Auf dem Weg dorthin probieren wir verschiedene Verhaltensweisen aus. Wir versuchen uns mit dem Verhalten des Pferdes abzustimmen. Aber wir können es nicht mit unseren gewohnten Kommunikationsformen lenken. Mit den menschlichen Worten werden - allenfalls durch die Betonung - Emotionen übermittelt, die beruhigend oder aufmunternd wirken können. Aber selbst das funktioniert nicht, wenn das Pferd nicht vertraut. Wir spüren, dass wir echt sein müssen. Das Pferd folgt uns am ehesten, wenn wir möglichst genau so sind, wie wir sind. Es scannt uns und unsere in uns schlummernden Fähigkeiten, die oftmals für uns selbst nicht immer sichtbar oder erfahrbar sind.


Für Kinder ist das die leichtere Aufgabe, weil sie in der Regel direkt das leben, was im Moment da ist. Deshalb bekommen sie bereits beim Führen ihres Ponys die ersten Erfolgserlebnisse. Sie gehen einfach los, und das Pony folgt ihnen wie selbstverständlich. Sie erleben, wie ein so großes und starkes Tier, das sie gleich auf seinem Rücken tragen wird, ihnen folgt. Beide bilden schon eine harmonische Einheit, bei der das Kind Anführer:in sein darf.


Pferde sind, genau wie wir Menschen, höchst soziale Wesen, sind sie kooperativ und wollen gefallen. Gleichzeitig sind sie auf eine faire, sichere und klare Führung angewiesen. Als Fluchttiere müssen sie sich überzeugen können, dass der Mensch:

A) es gut mit ihnen meint = emotional zugewandt, ausgeglichen, wertschätzend und authentisch ist
B) in der Lage ist, es zu beschützen = umsichtig, sicher im Auftreten, achtsam mit möglichen Gefahren oder Hindernissen umgeht
C) selbst einen Plan hat, für die gemeinsame Unternehmung = Klarheit, Zielorientierung und Selbstbewusstsein ausstrahlt

In diesem Sinne sind Pferde unsere Lehrer für eine Reihe von personalen und sozialen

Kompetenzen, die uns in unserem Leben höchst dienlich sein können. Geht die Harmonie verloren, verabschiedet sich ein Pferd aus der gemeinsamen Unternehmung oder übernimmt selbst die Führung. Dann sind wir eingeladen, unsere Möglichkeiten zu erweitern. Es wird sich wieder bereitwillig anschließen, sobald alles aus seiner Sicht in Ordnung ist und es

sich sicher fühlt bei seinem Menschen. Für Erwachsene kann das ein „Aha-Erlebnis“ sein, wenn sie gewohnt sind, mit ihren Mitmenschen in einen allein durch Worte getragenen Austausch zu gehen. Das Pferd braucht eine ganzheitliche Verständigung. Diese gestaltet sich hauptsächlich über Körpersprache, Körperausdruck, positive Emotionen und Gedankenbilder, die mit Emotionen verknüpft sind. Das Gute ist, dass wir alle über diese Dimensionen des Austausches verfügen. Und wir dürfen sie in Gegenwart des Pferdes

ausprobieren, erforschen, wahrnehmen und erkennen. An das Training schließt sich ein

ausführliches Gespräch an, um die gemachten Erfahrungen in das Alltagsbewusstsein zu

integrieren. Dies ermöglicht uns dann ganzheitlicher, wertschätzender und unvoreingenommener mit unserer Umwelt zu interagieren.


Genauso hilft es aber auch für einen wertschätzenderen Umgang mit uns selbst. Manchmal beschließt ein Pferd mit seinen etwa 300 bis 600, manchmal auch 800 Kilogramm, uns etwas zu lehren, in dem es beispielsweise einfach stehen bleibt und keinen Schritt weiter tut. Dann kommen eine Reihe von Fragen auf: Was will ich eigentlich? Wie führe ich? Wie leite ich an? Wie sicher bin ich? Wie geborgen fühlt sich mein Gegenüber bei mir? Wie viel traue ich mir zu? Sie dürfen beantwortet werden in der Interaktion mit dem Trainingspartner Pferd, welches immer unmittelbar, einfach und direkt reagieren wird. Voller Geduld, solange, bis wir uns unsere Fragen beantwortet haben. Pferde sind die idealen Begleiter durch einen Bewusstwerdungsprozess, von dem wir im Anschluß in unserem Alltag jederzeit profitieren können.


Wenn die Kinder nach der Kennenlern-Übung auf das Pony aufsteigen, genießen sie es getragen und gehalten zu werden, im Rhythmus eines größeren Wesens. Dann strahlen die meisten Kinder über das ganze Gesicht.


Für ängstliche Kinder oder jede, die sich schwer konzentrieren können, verfügen die Pferde über ihre eigenen pädagogischen und therapeutischen Lösungen. Ich erinnere mich an Ina, die sehr viel redete, während sie auf dem Pferderücken saß. Sobald das Pony eine abrupte Bewegung machte erschrak sie so sehr, dass sie sich festkrallte und verkrampfte. Daraufhin verlangsamte das Pony sein Tempo und bewegte sich außergewöhnlich rücksichtsvoll. Es blieb sogar von selbst stehen, sobald Ina unsicherer wurde. So konnte sie lernen:


A) die eigenen Angstmomente wahrzunehmen und zu benennen
B) Vertrauen in das Pony zu fassen

Durch dieses harmonische Miteinander wurde Ina zunehmend selbstbewußter. Sie lernte „Nein“ und „Stopp“ zu sagen, sobald sie sich überfordert fühlte. Die Pferde halten für uns einen großen Schatz an Erfahrungen bereit. Ihre unmittelbare Präsenz ermöglicht tiefgreifende Erfahrungen, die sowohl auf mentaler als auch auf körperlicher Ebene verankert werden, und im Alltag jederzeit abrufbar sind.


 

Doreen Pose ist Soziologin, Waldorfpädagogin und Kursleiterin des von ihr selbst entwickelten Trainingskonzeptes „Mit Pferden Lernen“. Seit 2008 begleitet sie mit ihren drei Pferden Erwachsene in Persönlichkeits- und Führungsseminaren. Parallel dazu können Kinder ab fünf Jahren spielerisch und ganzheitlich auf ihren Ponys die Grundlagen des Reitens erlernen.


Bei der Pädiko-Akademie gibt sie das Seminar "Mit Pferden Lernen: Work - Life - Balance" für pädagogische Fachkräfte.

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